Vergessene Geschichte

Die „Balkonrede“ von Kaiser Wilhelm am 1. August 1914

und die Reaktion der Synagogen – Gemeinde von Wanne-Eickel

Am Abend des 1. August 1914 trat Kaiser Wilhelm II., dessen Stahlhelm in der Abendsonne glitzerte, auf den Balkon des Berliner Schlosses und hielt seine erste Kriegsrede an das deutsche Volk: „Kommt es zum Kampf, so hören alle Parteien auf! Auch mich hat die eine oder andere Partei wohl angegriffen. Das war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen. Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“ (Stenogramm der Kriegs-Rundschau, Berlin 1914, S. 43)

Unter brausendem Hurra der Menge wies der Kaiser darauf hin, dass er (auf dem Verordnungsweg) allgemeine Gottesdienste in den Gotteshäusern für die ins Feld ziehenden deutschen Truppen wünsche und alle Vereine, Verbände, Genossenschaften und Betriebe auffordere, Kriegsspenden in Form von „Stiftungen“ an das deutsche Reich einzubringen. Außerdem ließ sich Wilhelm II. in der ersten Kriegssitzung des Reichstags am 4. August 1914 einstimmig die sogenannten „Kriegskredite“ bewilligen.

Interessant ist die Reaktion der Synagogen – Gemeinde von Wanne-Eickel auf den Aufruf des Kaisers, der sich als Symbol einer geeinten Nation darstellte und in der „Schicksalsstunde“ des Reiches keine Konfessionen mehr kannte. Die Reaktion, abgedruckt in der Wanner Zeitung vom 7. August 1914, steht stellvertretend für die anderen Synagogen – Gemeinden in Deutschland, die in dieser Schicksalsstunde nicht abseits stehen wollten.

(c) Fred Hartwig
Die Synagoge in Wanne (Bild von Fred Hartwig)

Stiftungen!


Die Synagogen – Gemeinde von Wanne-Eickel hat am 5. August 1914, vormittags 9 Uhr, gemäß der Verordnung unseres Kaisers in der Synagoge einen allgemeinen Gottesdienst abgehalten, um in dieser ernsten und schweren Zeit Gott anzurufen und dessen Hilfe für Kaiser und Reich zu erflehen. Nach dem Gottesdienst fand eine allgemeine Kundgebung der anwesenden Besucher des Gotteshauses dahin statt, dass gesamte Barvermögen der Synagogen – Gemeinde und ihrer Wohltätigkeitsvereine zur Linderung der Kriegsnot den politischen Gemeinden Wanne und Eickel zu Händen des Herrn Amtmann Weiberg zu Wanne zur Verfügung zu stellen. Im Anschluß an diese Kundgebung traten der Vorstand und die Repräsentanten der Synagogen – Gemeinde zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. In dieser wurde einstimmig folgender Beschluß gefaßt:

Die Synagogen – Gemeinde Wanne-Eickel stellt ihr gesamtes gegenwärtiges Barvermögen den politischen Gemeinden Wanne und Eickel zu Händen des Herrn Amtmann Weiberg zu Wanne zur Verfügung. Dieses Vermögen besteht aus:
einem Sparkassenguthaben bei der Wanner Sparkasse von rund Mk. 1000.-.
dem Vermögen des israelitischen Frauenvereins Wanne-Eickel in Höhe von Mk. 1000.-.
dem Vermögen des Männer – Wohltätigkeitsvereins Wanne in Höhe von Mk. 500.-.
dem Vermögen des Männer – Wohltätigkeitsvereins Eickel in Höhe von Mk. 100 rund.
Es soll der Herr Amtmann Weiberg zu Wanne gebeten werden, nach voraufgegangener Verständigung mit Herrn Amtmann Berkermann zu Eickel über tausend Mark zu verfügen, sobald die gegenwärtigen Verhältnisse dieses bedingen.

Über die weiteren Mk. 1600.- bitten wir dann zu verfügen, wenn die Not es erheischt.

Ferner wurde der Kundgebung in der Synagoge gemäß einstimmig beschlossen, das Synagogen – Gebäude mit Ausschluß der Lehrerwohnung für sanitäre Zwecke des Krieges zur Verfügung zu stellen. Zur Ausführung dieser Beschlüsse wird Herr Synagogen – Vorsteher B. Rose ermächtigt. Hoffentlich findet diese hochherzige Stiftung Nachahmung.

Bericht von Gerd Kaemper und Wolfgang Viehweger

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