Tiergeschichten vom Gysenberg

Jennifer

Auch wenn ich weiß, dass mein Freund Werner Galland ein Jäger ist und diese Berufsgattung im Ruf der Übertreibung steht, so weiß ich doch auch, dass er eine Ausnahme bildet und mir niemals „Jägerlatein“ auftischen würde, wenn er mir in der Jägerecke seines Restaurants seltsame Tiergeschichten erzählt.
Eines Tages fragte ich ihn nach der Bewandtnis mit dem präparierten Kopf einer Wildsau, der neben dem Kamin im kleinen Gästeraum hängt und mit dunklen Glasaugen auf die Leute blickt, welche hier speisen. Werner schwieg eine Weile, als müsse er sich daran erinnern, und sagte dann versonnen, dass die Komik im Leben nie ausgehe, wenn man mit Tieren zusammenlebe.

Er habe, nachdem er das Restaurant von seinem Vater Hugo übernommen hatte, zeitweise auf einer Wiese am Gysenberg Wildschweine gehalten, weil er den Ehrgeiz verspürte, den Gästen frischen Wildbraten zu allen Jahreszeiten anzubieten. Unter seinen Wildschweinen befand sich eine junge Sau, die keine Scheu vor ihm gehabt und ihn beim täglichen Füttern kokett und voller Übermut umkreist habe, um ihm zu zeigen, dass er ihr Favorit vor allen Ebern sei. Er habe ihr als Zeichen seiner Sympathie den Namen „Jennifer“ gegeben, den sie gern zu hören schien.
Eines Tages stand Jennifer mitten im Restaurant, vielleicht aus Sehnsucht nach ihrem Freund, vielleicht auch aus Neugier, weil sie wissen wollte, wohin Werner sich zurückzog, wenn die Fütterung beendet war. Die Gäste im Restaurant wichen erschrocken in die hinteren Räume aus, nur der mutige Barkellner blieb, durch die Theke einigermaßen geschützt. Als die Wildsau sich aufstellte und die Vorderläufe auf die Theke legte, schob ihr der Kellner einen Unterteller mit Bier zu und fragte: „Sind Sie deshalb gekommen?“ Jennifer beschnupperte den Teller, schlappte dann das Bier aus und leckte den Rand und das, was sie verschüttet hatte, manierlich ab.
Natürlich war die Freude der Gäste, die das Spektakel aus sicherer Entfernung verfolgt hatten, riesengroß. So hänselten sie den Barkellner, nachdem er die Wildsau höflich zur Tür hinauskomplimentiert hatte: „Was hat die Dame denn für das Bier bezahlt? Welches Parfüm benutzt eigentlich Madame Wildsau?“ Was Jennifer auch mit ihrem Besuch bezweckt haben mochte, - sie war zufrieden und begab sich im Einvernehmen mit der Welt auf die Wiese zurück. Wenig später wurde sie von Werner Galland schnarchend unter einem Baum angetroffen. Während des Besuchs war er abwesend, was ihm leid tat, ahnte er doch, dass Jennifer seinetwegen und nicht wegen des Bieres gekommen war.

Seitdem warteten die Gäste täglich auf die Wildsau, da sie vermuteten, sie wolle eine zweite Runde Bier trinken. Das verhinderte Werner jedoch, indem er das Loch im Zaun verschloss und Jennifer weiter frisches Wasser saufen ließ, was ihr besser tat. Als Jennifers Erdentage abgelaufen waren, kam ihr Kopf zur Erinnerung an ihren denkwürdigen Besuch für immer in das Restaurant. Werner Galland meinte abschließend, dass das Tier ab und zu den Kopf schüttle, wenn es sehe, was manche Gäste für seltsame Tisch- und Trinkmanieren hätten.

Juan

Neulich besuchte ich meinen Freund Werner Galland, dem ich einiges Privatmaterial zu meinem Buch „Die Grafen von Westerholt-Gysenberg“ verdanke; waren doch die Gallands von 1742 die Rentmeister (Güterdirektoren) der gräflichen Familie bis zum Jahr 1947. Wir setzten uns also im Restaurant „Haus Galland“ in die sogenannte „Jägerecke“, wo der Künstler Wolfgang Ringhut eine Dauerausstellung von Werners Vorfahren präsentiert, tranken ein Bier und sprachen über Belangloses, als mir Werner schließlich eine Tiergeschichte erzählte, die ich rührend fand.

Die Gallands hatten vor etlichen Jahren eine Jagdhündin namens„Emma“, die in der Zeit scheinträchtig war, als der Familie ein Glückskätzchen in den Farben rot, grau und weiß zulief. Der junge Kater wurde von Emma als ihr Baby betrachtet, beleckt, herumgetragen und adoptiert. Ihm kam das entgegen, weil er liebevoll und verschmust war, außerdem bequem genug, um die Sorge für die Organisation des Alltags der Pflegemutter zu überlassen.

Nun hatte der Bauer Wittenberg, der direkte Nachbar der Gallands, im Vorderhaus (mit Schuppen für Ackergerät) an der Ruhmbachstraße ein Jahr später eine Katzenmutter mit vielen Kindern, die von Emma und „Juan“, wie Claudia, die Tochter der Gallands, den Kater getauft hatte, ständig beobachtet wurden, weil die beiden keinen anderen Zeitvertreib hatten. Als die jungen Katzen geschlechtsreif wurden, sahen die Zuschauer den ständigen Besuch von Katzenherren bei den Wittenbergs und natürlich auch die Ereignisse, die sich aus den unverblümten Angeboten der Freier ergaben.
Juan, der von den Nachbarkatzen nicht als Kater betrachtet wurde, weil er ständig mit Emma herumlief, von ihr weiter betreut wurde und sich mit ihr in der Hundesprache verständigte, beschloss deshalb, sich von den Gallands und seiner
Pflegemutter zu lösen und das nachzuahmen, was offensichtlich den anderen Katzenherren Spaß machte. Er zog in das Hinterhaus (mit angebauten Stallungen) der Wittenbergs, zeugte mit den Damen des Vorderhauses nach und nach etwa 80 Nachkommen - davon 50 Glückskater - und machte so seinem Namen alle Ehre.
Wenn seine ehemaligen Herrschaften mit der Hündin Emma spazieren gingen und an Wittenbergs Hof vorbeikamen, begleitete sie Juan meist ein Stück des Weges, wobei er sich angeregt mit Emma unterhielt, und kehrte dann zu seinen neuen Besitzern zurück. Leider hatte Juan kein gutes Ende, weil er eines Tages offenbar etwas von dem Rattengift fraß, das städtische Mitarbeiter am nahen Gysenberg gegen die störenden Nager ausgelegt hatten. Juan verstarb unter Schmerzen nach wenigen Stunden, obwohl die Familie Wittenberg einen Tierarzt konsultierte und auch der kleine Patient verzweifelt um sein Leben kämpfte.

Wolfgang Viehweger

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