In der „Reichskristallnacht“ brennt die Herner Synagoge
Lehrer führen ihre Schüler an den rauchenden Trümmern vorbei

(Diesen Artikel schrieb Michael Thiele am 9. November 1978 in der WAZ)

Klaus Favreau
Die Synagoge in Herne
(Bild von Fred Hartwig)

Fernschreiben Nr. 234 404, Gestapo Berlin vom 9. November 1938: An alle Stapo-Stellen.
Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen die Juden stattfinden. Sie sind nicht zu stören. Sofern sich in Synagogen wichtiges Archivmaterial befindet, ist dieses sicherzustellen!
In der Nacht vom 9. zum 10. November, in der berüchtigten Reichskristallnacht, brannte die Synagoge an der Hermann-Löns-Straße/Schäferstraße.

Die Verzweiflungstat eines 17jährigen in Paris lieferte den braunen Machthabern den Vorwand für eine „Strafaktion“ ohne Beispiel. Herschel Grünspan hatte am 7. November den Legationssekretär vom Rath erschossen – die kopflose Reaktion eines Jugendlichen, der miterleben musste, wie seine Eltern zusammen mit 15 000 anderen Juden von Hannover nach Polen deportiert worden waren.

Das Johlen der Vollstrecker des „spontanen Volkszorns“ erfüllte die Straßen Hernes. Nicht nur die Synagoge brannte. Wie überall im Reich wurden auch jüdische Geschäfte zerstört und geplündert. Die Lehrer der Herner Schulen mussten die ihnen anvertrauten Kinder am 10. November an den rauchenden Trümmern des jüdischen Gotteshauses vorbeiführen.
Die gleichgeschaltete Presse der Stadt überschlug sich in Hasstiraden, stempelte Opfer zu Tätern, erging sich in kaum verhohlener Schadensfreude.

„Herner Zeitung“  vom 10. November 1938:
Die Reaktion auf die feige Mordtat in Paris blieb auch in Herne nicht aus. In der Bevölkerung machte sich begründeter Unwille breit. Abscheu über das ruchlose Verbrechen wollte sich Luft verschaffen. Und so kam es zu Demonstrationen gegen die hier noch weilenden Rassegenossen Herschel Grünspans. Tausende und Abertausende zogen durch die Straßen und konnten erleben, wie die Synagoge in Trümmer und Schutt fiel. Auf der unteren Bahnhofstraße rechnete man ähnlich mit einem Juden ab, der zusehen musste, wie Flammen an seinem Lager züngelten.

„Westfälische Landeszeitung“ vom 10. November 1938:
Es war zu erwarten, dass die Rache auf Vergeltung sich in antijüdischen Aktionen auswirkte, als deren Folge der Judentempel, der ohnehin seit Jahren überflüssig war und in seiner Bauart das Stadtbild verschandelte, in Flammen aufging. Im Verlaufe der judenfeindlichen Demonstrationen wurden die Schaufenster jüdischer Einzelhandelsgeschäfte zerstört. Um den Juden selbst kein Haar zu krümmen, sah sich die Polizei veranlasst, sie zu ihrer eigenen Sicherheit in Schutzhaft zu nehmen.

(1938 lebten  471 jüdische Bürger in Herne. Nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrors waren es 15, zurückgekehrt aus der Emigration, aus Konzentrationslagern und Zuchthäusern.)

Wiederentdeckt von Wolfgang Viehweger
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